Anna aus Berlin verbringt ihr Auslandsjahr mit unserem Austausch-Stipendium in Belo Horizonte in Brasilien. Sie berichtet hier über ihre Erfahrungen
Es ist irgendwie schwierig ein Resümee dieses Jahres zu schreiben, vor allem weil es sich noch so gar nicht vorbei anfühlt.
Schüleraustausch Brasilien: Mein Jahr mit Höhen und Tiefen
Ein paar Wochen vor dem Abflug bekam ich von meiner Berliner Austauschorganisation ein Handbuch zu meinem Austausch zugeschickt, darin befand sich unter anderem die Grafik einer “Stimmungskurve” für die Dauer meines brasilianischen Daseins; anfängliche, entdeckungslustige Euphorie, gefolgt von einem Erschöpfungs-/ Heimwehtief und dann eine sich langsam aber sicher einpegelnde Linie, die sich einstellende Normalität, der Alltag.
Die Vorstellung mit meinen Gefühlen derart vorhersehbar und in eine Grafik verpackbar zu sein, fand ich ziemlich unglaubwürdig und unangenehm. Aber im Nachhinein muss ich zugeben, dass zumindest ich diese Kurve ziemlich genau erfüllt habe.
Die ersten Monate in Brasilien zwischen Begeisterung und Erschöpfung
Der Anfang war ein riesiges Abenteuer, die Sprache wunderschön, aber mir komplett unverständlich und meine Gastfamilie und das Condomínio geradezu paradiesisch. Dann, ziemlich genau nach einem Monat und der ersten Schulwoche kam die körperliche Erschöpfung des "Kulturschocks" und der 55-Stunden-Schulwoche, eine gewisse Ernüchterung nach der anfänglichen “Vollzeit-Begeisterung” das Begreifen, was ein Jahr wirklich bedeutet.
Die ersten vier Monate waren für mich nicht ganz einfach; die Tage vollständig gefüllt mit Unterricht und Hausaufgaben, ich war insgesamt emotional ziemlich fertig und der festgefahrenen Konflikt und das Gefühl von Eingesperrt-Sein in meiner ersten Gastfamilie definitiv mein absoluter Tiefpunkt.
Auslandsjahr in Brasilien: Viele Freunde und meine Suche nach der besten Gastfamilie
Meine Erlösung und die wahrscheinlich schönste Erfahrung dieses Jahres, waren die wunderbaren Menschen, Freunde, die ich hier gefunden habe. Die Fähigkeit einfach auch wieder kindlich oder verträumt zu sein, und mich sicher und zuhause zu fühlen haben sie mir nach einer sehr unglücklichen Phase wieder geschenkt.
Aber auch dann die Erleichterung, endlich die Gastfamilie wechseln zu können, war ein unglaubliches Aufatmen. Aber nicht nur das, sondern auch ein ziemlicher Perspektivwechsel; vier Tage bei dem Anwaltspaar zu leben, ihre Lebenswahrheit kennenzulernen war unglaublich beeindruckend.
Meine dritte Gastfamilie war endlich das Gefühl von Ankommen, und ich bin sehr glücklich mit ihr leben zu können! Jetzt bin ich wohl auf der Geraden angekommen, im Alltag, in dem die Zeit nur so davon zu fliegen zu scheint, die Tage vollgestopft sind, intensiv und wunderschön.
Der Schüleraustausch in Brasilien hat mich verändert
Ich bin mir sicher, mich in und durch die Zeit in Brasilien verändert zu haben, allein schon weil der Anfang so schwer war, aber wie und wie sehr überhaupt werde ich wahrscheinlich erst merken wenn ich wieder in Deutschland bin. Ich glaube aber zumindest, dass meine liebe Ökonomie-Schule hier meine Belastungsgrenze sehr erhöht und meine Fähigkeit des Bulimie-Lernens gestiegen.
Wenn ich jetzt über meinen deutschen Alltag nachdenke, fallen mir sehr viele Selbstverständlichkeiten ein, die hier, und für mich überhaupt nicht mehr normal sind. Meine Wahrnehmung hat sich verändert.
Und ich hoffe, dass ich wenigstens einen kleinen Teil der unglaublichen, unkomplizierten, spontanen Großzügigkeit meiner Freunde gelernt habe, der Brasilianer generell. Diese Offenheit werde ich in Deutschland mit absoluter Sicherheit vermissen.
Brasilien ist ein schönes Land und ein gutes Ziel für den Schüleraustausch
In letzter Zeit werde ich immer wieder gefragt, ob ich in Brasilien leben wollen würde, für immer. Ich könnte doch jetzt noch einfach schnell irgendeinen meiner Freunde heiraten, dann bräuchte ich nicht mal mehr ein Visa und fertig! (Das nennt sich das jeitinho brasileiro, das “brasilianische Wegchen”; eine mehr oder weniger korrekte / offizielle Form irgendwas Kompliziertes auf gemütlich zu regeln!)
Aber wenn ich ganz ehrlich bin, ist die Antwort nein. Ich habe dieses Land für seine sonnige Leichtigkeit, seine herzlichen Menschen, seine Musik und Sprache, die absolut vom Thema abschweifenden Unterhaltungen mit den Lehrern im Unterricht, die Memes, Früchte, geradezu endlosen Landstraßen; absurdesten “Tanzmoves” des Planeten, die hier einfach ALLE beherrschen lieben gelernt.
Dazu gehören auch die kriechend langsamen, ungeheurer lauten Busse, in denen man die Fahrkarte nicht an Automaten oder beim Busfahrer, sondern bei einem üblicherweise schlechtgelaunten Jungen auf einem Hochstuhl am Eingang kauft. Nicht zu vergessen die manchmal unverständlichen portugiesischen Abwandlungen von englischen Namen; die das ganze Jahr über blühenden Bäume, die “Käse-Teig-Brote”, uralte Buchläden, berittene Milchverkäufer und das Wetter – selbst wenn es im März manchmal so stark geregnet hat, dass die Autos auf den tiefer gelegenen Straßen vom Wasser mitgerissen werden und in der Stadt das Licht ausgefallen ist.. :))
Die persönliche Sicherheit hat in Brasilien schnell Grenzen
Aber die mangelnde Sicherheit, und der Anspannung sich immer Gedanken darüber machen zu müssen, wie man angezogen ist, was man mit auf die Straße nehmen kann und was nicht, welche Straßen man sowieso meiden sollte, wie man wieder nach Hause kommt, das ist alles sehr lästig und beschränkt mich in meiner Freiheit sehr.
Der Internationale Frauentag in Brasilien war ein Erlebnis
Es war eine traurige Ironie, am 8. März, als den gesamten Tag im Radio, der Politik, der Schule und auf der Kundgebung über Feminismus geredet wurde, und ich noch am selben Tag abends mit Herzflattern durch die dunklen Straßen nach Hause lieber gerannt bin und sobald ich dort war, erst einmal meine Freundin angerufen habe, um auch ihr sicheres Ankommen abzuchecken. Das sind dann so die täglichen kleinen Stressphasen.
Allerdings toll, am internationalen Frauentag, oder vielmehr am Vorabend, war eine Aktion des größten Fußballclubs des Bundesstaates, Crurzeiro, der die Tickets für sein nächstes Spiel an Frauen verschenkte. Deshalb war ich dann tatsächlich mit zwei Freundinnen im Mineirão. Das ist das berühmt-berüchtigte Stadion, in dem Deutschland bei der Weltmeisterschaft 2014 mit sieben zu eins gegen Brasilien gewonnen hat. Das hat mir jetzt bei der Enthüllung meiner Nationalität immer wieder einmal ein breites, schiefes Lächeln und ein “Aaah, aber dieses Jahr zeigen wir es euch!” oder einfach die schon kultigen, alltäglichen Witzeleien und Wortspiele meiner Klassenkameraden einbringt!
Mein Alltag in Brasilien heute
Dank Ivan bin ich zu einem zweimonatigen Praktikum in der Assembleia Legisatíva, dem Landtag von Minas Gerais gekommen.
Das und die Schule füllen meine Wochen jetzt ziemlich lückenlos aus und sind manchmal auch wirklich sehr stressig, und ich kippe abends wie erschlagen ins Bett, aber machen alles in allem auch Spaß. Besonders in der Schule ist es ziemlich cool, wenn sich meine Portugiesisch-Fortschritte wirklich bemerkbar machen und ich im Unterricht ohne Probleme gut mitkomme, und meine Noten echt nicht schlecht sind!
Und die Wochenenden sind zu kurz, immer, es gibt immer noch so viele Dinge, die ich tun, ausprobieren, kennenlernen will, ich weiß noch nicht wie das funktionieren soll; meine Freunde hier zu lassen!
Eure Anna