Anna aus Berlin verbringt ihr Auslandsjahr mit unserem Stipendium in Brasilien. Sie berichtet hier über ihre Erfahrungen
Warum ich zum Schüleraustausch nach Brasilien wollte
Im Nachhinein glaube ich: Die größte Antriebskraft und Ursprung des Wunsches, dieses Jahr in Brasilien zu leben, war tatsächlich – so wie bei vielem anderem auch – das Kino. Ich habe einfach ein paar Filme zu viel geguckt, die zeigen, dass der Ort an dem ich lebe, nur eine Version ist, und noch viel mehr eine ziemlich seichte, behütete Blase, die sich zwar wie der Nabel der Welt anfühlt, aber es mit Sicherheit nicht ist.
Die Möglichkeit, eine ganz andere Kultur kennenzulernen, fließend in einer anderen Sprache zu werden, eine zweite Familie am anderen Ende der Welt zu finden, die kindliche Neugier auf das fünftgrößte Land der Welt mit seinem Amazonas Regenwald und der Widerwillen, das nächste Jahr ganz normal in der Schule zu fristen.
Meine Suche nach einer Finanzierung für mein Auslandsjahr
Ich habe mich also in Fernweh gewälzt und angefangen, nach einer Möglichkeit zu suchen, ein Jahr im Ausland leben zu können, ohne gleichzeitig den finanziellen Hausfrieden zu morden! Ich habe es dann auch tatsächlich irgendwie geschafft.
Leider ohne Vollstipendium, aber mit einem kleinen Preisnachlass von Seiten der Austauschorganisation, väterlichen Unterhaltszahlungen, (hoffentlich bestätigtem) Auslands-Bafög und dem Taschengeldstipendium der Deutschen Stiftung Völkerverständigung, ohne das ich hier tatsächlich gerade, allein schon wegen der vielen Busfahrten, ziemlich aufgeschmissen wäre!
Die Zeit vor dem Abflug nach Brasilien
Wenn ich jetzt auf die (Zeit vor der) Abreise zurückblicke, kann ich über mich selbst eigentlich nur sagen, dass ich ziemlich furchtlos und wahrscheinlich ohne eine wirkliche Vorstellung für die tatsächliche Bedeutung von einem Jahr und der bevorstehenden Entfernung war.
Das Datum war zwar eine feste Größe, aber absolut überlagert von Schule und Prüfungen. Es war neben all dem unmittelbaren Stress vielmehr ein bisschen lästig, auch noch die vielen nötigen Dokumente und Kleinigkeiten zusammensammeln zu müssen. Der Volkshochschulkurs (Portugiesisch Kurs) und das bewusste „Brasilien – Filme“ - gucken waren da noch am wirklichsten!
Der Flug zum Schüleraustausch nach Sao Paulo in Brasilien
Der Flug kam mir gleichzeitig viel zu kurz (um das Filmprogramm zu wirklich auszunutzen) und gleichzeitig endlos vor! Aber auch nachdem ich fast um fünf Uhr morgens in São Paulo auf dem Flughafen (ohne eine einzige Englisch sprechende Person) mein Gepäck verloren und dann meinen Anschlussflug verpasst hätte, war es noch viel weniger real, tatsächlich einfach so in Belo Horizonte, anzukommen. Belo Horizonte ist die Hauptstadt eines Bundestaates so groß wie Deutschland, bekannt für Bergbau und Käseproduktion!. Dort wurde ich am Flughafen abgeholt, bekam ein Zimmer und ging im Restaurant der Gasteltern essen. Absolut surreal.
Das Leben bei meiner Gastfamilie
Die Fahrt vom Flughafen zu dem Condomínio, der 45 Kilometer von der Stadt entfernten Siedlung, in der meine Gastfamilie lebt, war schon an sich ein kleiner Kulturschock: Vorbei an Wellblechhütten, Straßenhunden und -kindern, dem Hochhauswald von Belo Horizonte und durch die, für meine naiven, europäischen Augen schon sehr tropisch und aufregend erscheinende Berglandschaft von Minas Gerais, in eine kleine Kolonie von schneeweißen Reihenhäusern mit Palmen, Pools und Gärtnern, hinter Mauern und Stacheldraht.
Heute habe ich mich daran gewöhnt, mit dem Bus von der Schule von der einen Welt in die andere zu fahren, meine Gasteltern jedes Mal bitten zu müssen, die Sicherheitsbeamten an der Pforte anzurufen, bevor ich das Condomínio verlassen möchte. Aber zu Beginn war es ein schreckliches Gefühl, auch von Eingesperrt sein, aber noch viel mehr das schlechte Gewissen, das Bilderbuchbeispiel einer Parallelgesellschaft zu erfüllen. Die Normalität, die das alles jetzt schon hat, ist aber bei genauerem Darüber-Nachdenken auch absolut nicht angenehm.
Wie man sieht, ich kämpfe in diesem Punkt sehr mit der Objektivität. Es ist nicht immer einfach, das Vergleichen auszuschalten, Wertvorstellungen abzuschütteln und einfach zu akzeptieren.
Ich weiß, mit Sicherheit, dass mein größtes Problem, das ich bis jetzt hier hatte, und auch weiterhin haben werden, mein Kopf ist, und die Fülle an Gedanken, die darin vor sich hin vegetieren. Ohne dieses ganze Gegrübele wäre eine Menge einfacher!
Meine Gastfamilie ist für mich eine kleine Herausforderung, weil sich meine Gasteltern gerade durch eine berufliche Probleme kämpfen. Mir ist auch immer bewusst geworden, dass es wohl einerseits nicht immer ganz einfach ist, Gastgeschwister im gleichen Alter und sogar in der gleichen Klasse zu haben, und man immer aufeinander klebt, als auch andererseits, dass ich wohl tatsächlich bis jetzt in einem reinem Frauenhaushalt aufgewachsen bin, und deshalb an manche Formen der Kommunikation einfach noch nicht gewöhnt bin. Aber ich lerne, deshalb bin ich ja hier.
Die Schule in Brasilien: Ganztagsschule mit elf Stunden-Tagen
Auch die Schule. Diese Schule..! In Deutschland habe war ich seit der ersten Klasse in Ganztagesschulen, sem problema! Hier in Brasilien jetzt auch, aber dieses Wort bekommt mit meinem aktuellen Stundenplan, und elf-Stunden-Schultagen eine ganz neue Bedeutung!
Die ersten zwei, drei Wochen waren ein wirklicher Kraftakt und mit einer totaler körperlicher und emotionaler Erschöpfung verbunden. Ich glaube ein weiter nicht zu unterschätzender Stressfaktor, war bis zu diesem Punkt die Unsicherheit, in welchem Ausmaß meine schulischen Leistung für meine deutsche Schule und meine dortige Versetzung zählen. Ich hätte es nicht von mir selbst geglaubt, aber habe es tatsächlich geschafft, mich zu an diese, auf Ökonomie und Finanzen (jeder der mich kennt, wird bestätigen, nichts liegt mir ferner, als dies) spezialisierte Bildungsanstalt zu gewöhnen!
Der Korrektheit halber, sollte ich allerdings kurz erwähnen, dass brasilianische Schulen üblicherweise nur bis zum Mittag, allerspätestens bis 16 Uhr gehen, und ich wirklich einen Exoten erwischt habe!
Aber trotz der anfänglichen völligen Überforderung, und einer Menge von Fächern, die ich überhaupt nicht leiden kann (Buchhaltung und Logistik sind am schlimmsten), bin ich inzwischen lieber in der Schule: Ich bin hier stolze Zweitklässlerin der brasilianischen „Oberstufe“ als Zuhause. Ich habe hier ein paar wunderbare Menschen kennengelernt, Freunde gefunden und den besten Dauer – Crash-Kurs in Portugiesisch, den ich mir wünschen könnte! Ich bin natürlich noch lange nicht fließend, aber doch schon sehr gut fähig zu kommunizieren und plappere fröhlich auf alles und jeden ein, der sich meinen Grammatikfehlern aussetzen möchte. Aber diese so schnell gewonnene Freiheit macht mich tatsächlich sehr glücklich!
Brasilianer sind offen und freundlich
Die brasilianische Offenheit, Freundlichkeit und Neugier ist in meinen Augen ein sich tatsächlich erfüllendes Klischee, zumindest in meiner Erfahrung. Auch wenn mir schon viele Leute versichert haben, die brasilianische Gesinnung würde wenn überhaupt polarisieren! Entweder grundgütig oder kriminell! Ich hab bis jetzt (bewusst) nur die Erfahrung mit ersterer gemacht – auch wenn ich nach knapp dem ersten Monat und einer Busfahrt mein Smartphone nicht mehr wiederfinden konnte, und ich bis heute nicht weiß, ob ich es einfach verloren oder es mir doch klauen lassen habe.
Etwas anderes, was mir aber bei Brasilianern aufgefallen ist, und mich manchmal ein bisschen aufregt, ist die, am offensichtlichsten mit dem gängigen „Oi, tudo bom?“ - Gefrage verbundene Oberflächlichkeit! Niemand will in diesem Moment wirklich wissen, wie du dich fühlst, und auch wenn es dir offensichtlich überhaupt nicht gut geht, wird ein verlogenes Lächeln erwartet.
Ich weiß, dass das eine sehr freche Anschuldigung ist, denn würde hier immer alle ihren Gefühlen freien Lauf lassen, wäre diese Stadt ein sehr trauriger Anblick. Es gehört nicht zum allgemein gängigen „Image“ von Brasilianern, aber sie arbeiten übermenschlich viel! Ich habe noch nie solche Arbeitszeiten gesehen!
Die Mutter einer Freundin hat mir auf die Frage hin, wie sie das schafft, sehr offen geantwortet, dass sie schon glücklich ist, überhaupt arbeiten zu können, dass das ein Privileg wäre. Und dass ich noch immer nur das eine Brasilien gesehen hätte.
Ich bin das europäische Mädchen, das hier ein Jahr auf Kosten seiner Eltern im Ausland verbringt, danach wieder geht, und reich genug ist, um den Traum zu haben, etwas mit Kunst zu studieren (für meine Mitschüler eine verantwortungslose Idee). Ich lebe immer noch in einer Blase, einer einheimischen, offensichtlichen und allgemein akzeptierten Blase. Wie erwähnt, meine Gedanken grenzen manchmal an Selbstsabotage, und ich habe das Gefühl, dass mich der doch immer noch sehr allgegenwärtige Stress gerade zum rasanten „Erwachsenwerden“ zwingt. Also höchst effizient genutzte Zeit.
Umso dankbarer und glücklicher bin ich für meine Freunde, die mich immer wieder ganz selbstverständlich auf dem Boden zurückbringen, und mich, weitab vom Schuss wohnendes Wesen, in die Normalität, mit in den Großstadtdschungel von Belo Horizonte mitnehmen: In ihre offenen und neugierigen Familien, ins Museum, auf schweißtreibende Spaziergänge über Berghänge oder sogar ins Theater! Und wenn alles glatt geht, dann werde ich nächste Woche endlich erproben, ob ich Fußballtraining bei dreißig Grad überlebe!
Vor inzwischen schon wieder zwei Wochen hat es hier das erste Mal seit mehr als vier Monaten absoluter Trockenheit geregnet. Ich habe schon Filmregen gesehen, produziert, von einem Feuerwehrlöschauto, aber der Regen hier, kam mir vor wie eine Wasserwand. Meine Gasteltern haben sehr gelacht, als sie mich völlig entgeistert am Fenster entdeckt haben.
Fußball ist in Brasilien Kult
Ah! Fußball, obligatorisch zu erwähnen in einem Bericht aus Brasilien? Nun ja, ich habe es bis jetzt noch ganz gut geschafft, mich aus dem familiären Kleinkrieg zwischen Palmeiras und Cruzeiros herauszuhalten, aber als letzten Monat Belo Horizontes Club die Copa do Brasil gewonnen hat, habe ich doch eine Idee davon bekommen, wie viel Identifikation und Stolz mit diesem Thema verbunden sind, und als mein, normalerweise sehr sanftmütiger, Gastgroßvater plötzlich im Clubtrikot beim Abendessen saß, hatte ich wahrscheinlich die endgültige Erkenntnis, dass ich jetzt hier angekommen bin.
Meine ersten Monate in Brasilien sind wie im Fluge vergangen
Die vergangene Zeit fühlt sich in keinster Weise an, wie drei Monate, wahrscheinlich weil sie für mich so „vollgestopft“ war. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es war (und ist) einfach für mich, aber habe schon jetzt das Gefühl, eine Menge über mich selbst gelernt und, grob zusammengefasst, „die Welt“ gelernt zu haben, und es kann eigentlich nur noch besser werden! Ich hab jetzt noch zwei Monate Unterricht, und dann erst mal zwei Monate Sommerferien! Das lässt sich ganz gut aushalten! Und dann bin ich schon dritte Klasse! Phänomenal!
Até lá!
Anna




