Emma aus Nordrhein-Westfahlen verbringt das Auslandsjahr im Schüleraustausch an einer High School mit einem AUF IN DIE WELT-Stipendium der gemeinnützigen Stiftung Mensch und Zukunft in Kanada. Sie lebt bei einer Gastfamilie in der Provinz Nova Scotia. Sie berichtet hier über die Erfahrungen. Die Berichte zu ihrem Auslandsjahr in Kanada kann man im Schüleraustausch Kanada Blog sehen.
Alles zum Schüleraustausch nach Kanada gibt es im AUF IN DIE WELT-Portal, die Länderseite Schüleraustausch Kanada, den Leitfaden im Ratgeber E-Book Kanada und die Anleitung im Schüleraustausch Online-Kurs.
Emma über die Unterschiede Deutschland/Kanada
Der für mich größte Unterschied zwischen Deutschland und Kanada ist Unabhängigkeit im Alltag
Es gibt nur den Schulbus und der fährt natürlich auch nur zweimal am Tag, an Schultagen. In Deutschland konnte ich überall zu Fuß oder mit dem Zug hin und musste nie meine Eltern fragen, ob sie mich irgendwohin fahren können.
Nicht einmal mit dem Fahrrad kommt man weit, das heißt alles ist abhängig von meinen Gasteltern und ob sie Zeit haben, mich zu Schul- oder Freizeitaktivitäten zu fahren.
Planen ist darum sehr schwierig und viele Menschen sind dazu noch sehr spontan und erzählen z. B. erst 30 Minuten bevor sie in eine entferntere (aber größere) Stadt fahren von ihren Plänen. Generell habe ich damit kein Problem, aber es kann frustrierend sein, nie zu wissen was ich als nächstes mache.
Ein großer Unterschied ist auch die Geschichte
Ich hatte im ersten Halbjahr einen Kurs über die Ureinwohner hier und das war wirklich interessant, aber es ist auch ein struggle. Ich finde es anstrengend, wie wenig einige Menschen sich für die Geschichte des Landes, indem sie leben interessieren, vor allem, weil die meisten eben keine Ureinwohner/innen und deren Nachfahren sind. Ich glaube, dass wenige realisieren, wie viel Europäische Kolonialmächte das Leben von den Menschen, die vor ihnen hier gelebt haben, beeinflusst und manchmal sogar zerstört haben.
Viele sind stolz darauf, europäische Wurzeln zu haben und erzählen immer, dass ihre Urgroßmutter ja aus Irland war und ihr Urgroßvater kommt aus Deutschland oder wo auch immer. An sich ist das kein Problem, aber was mich etwas stört ist, dass sie sich dann wirklich als diese Nationalität identifizieren, die meisten aber leider nach Frage nichts über das jeweilige Land wissen. Meiner Meinung nach kann man Meinung nach kann man deutsch/… sein, auch wenn man noch nie in Deutschland war, aber dazu zählt eben auch, mehr über das Land zu wissen, als das Hitler hier war und es das Oktoberfest gibt.
Andererseits sind viele stolz darauf, kanadisch zu sein, verstehen dann aber nicht, dass das mit dem Verlust anderer Kulturen und Unterdrückung zusammenhängt. Es ist frustrierend, wenn Diskussionen über die kanadische Geschichte immer wieder als Übertreiben abgetan werden, obwohl es immer noch Menschen beeinflusst. Ich meine, die letzten Internate ausschließlich für Ureinwohner, wo sie benutzt und missbraucht wurden, in die „moderne Gesellschaft“ eingepasst werden sollten, wurden erst in den späten Neunzigern geschlossen.
Ich habe das Gefühl, in Deutschland arbeiten wir unsere Geschichte wenigstens auf, viele geben ihr Bestes, sodass so etwas nie wieder passiert. Und ja, hier versucht man das auch. Das Problem ist, es kommt nicht an. Einige ältere Menschen, die ich kennengelernt habe, verstehen das Thema viel besser als Leute in meinem Alter. Das Statement, dass es nicht ihr Fehler war, sondern der von anderen ist auch hier zwar wahr, aber das heißt ja nicht, dass wir es nicht reparieren sollten.
Einige Fragen, die ich mir stelle, sind wie können die Menschen über Kanada reden, aber die Ureinwohner und deren Geschichte nicht miteinbeziehen. Warum finden es so viele Menschen schwierig, über die Kolonialzeit und die wirklich reichlichen Fehler zu sprechen? Was ist wirklich in der „kanadische Identität“ reflektiert und was ist nur ein idealisiertes Bild?
Es gibt zwar überall Namen, Orte und Symbole, die daran erinnern, als auch „Land Acknowledgements“ die jeden Morgen vorgelesen werden, und das klingt ja alles erstmal gut, aber es ist auch nur ein Satz. Nichtsdestotrotz leben viele First Nations, ob auf sogenannten „Reserves“ oder im „regulären“ Land, in Armut, mit Rassismus oder eingeschränktem Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Das Ganze hat mich überrascht. In der Schule in Deutschland wäre Kanada spezifisch erst in der elften Klasse Thema geworden, und ich bin ja hier. Wir haben zwar über Ureinwohner in den USA, Australien und Neuseeland gesprochen, aber noch nicht über Kanada.
Geschichte der Ureinwohner
Also hier schreib ich mal noch eine kurze Zusammenfassung über ein paar Sachen, die ich in meinem Mi’Kmaq Kurs gelernt habe, spezifisch über die Residential Schools.
Die Mi’kmaq (auch Mi’kmaw oder Mi’kmaq People) sind eines der ältesten Völker Nordamerikas und leben seit Tausenden von Jahren auf dem Gebiet, das heute als Atlantik-Kanada bekannt ist. Ihre traditionelle Heimat, Mi’kma’ki, umfasst ganz Nova Scotia, Prince Edward Island, Teile von New Brunswick, Québec und Neufundland. Noch heute leben viele Mi’kmaq in Nova Scotia, sowohl in Reservaten als auch in Städten und ländlichen Gemeinden. Ihre Geschichte ist tief mit der Kolonialgeschichte Kanadas verknüpft – insbesondere mit der gewaltsamen Assimilierungspolitik, zu der auch das Residential School System gehörte.
Vor der Ankunft der Europäer lebten die Mi’kmaq in engen Gemeinschaften, die auf gegenseitigem Respekt, mündlicher Überlieferung, Jagd, Fischfang und spirituellen Traditionen basierten. Die ersten Kontakte mit europäischen Siedlern – vor allem Franzosen – im 16. und 17. Jahrhundert waren zunächst von Handel und begrenzter Zusammenarbeit geprägt. Doch mit der Expansion britischer Kolonien verschärften sich die Konflikte. Es kam zu Landraub, Vertreibungen und gezielter Zerstörung der kulturellen Identität der Mi’kmaq.
Ein zentrales Werkzeug dieser kolonialen Unterdrückung war das Residential School System, das ab dem 19. Jahrhundert in ganz Kanada eingeführt wurde – mit verheerenden Folgen. Ziel dieser Internatsschulen war es, indigene Kinder aus ihren Familien und Kulturen „herauszubrechen“, um sie in die europäisch-christliche Gesellschaft einzugliedern. In Nova Scotia war die bekannteste dieser Schulen das Shubenacadie Residential School, die von 1930 bis 1967 betrieben wurde.
Kinder wurden oft gewaltsam von ihren Familien getrennt und in diese Internate gebracht, wo sie ihre Sprache nicht mehr sprechen durften, und ihre kulturellen Bräuche verboten waren. Viele litten unter Misshandlungen, Vernachlässigung, Hunger und psychischer Gewalt. Zahlreiche ehemalige Schüler*innen berichten bis heute von sexualisierter Gewalt und tiefer seelischer Verletzung. Auch Todesfälle kamen vor – oftmals ohne Aufklärung oder würdige Bestattung.
Die Shubenacadie Residential School war die einzige ihrer Art in den Atlantikprovinzen, doch sie prägte Generationen von Mi’kmaq-Kindern. Viele verloren dauerhaft den Kontakt zu ihrer Familie und ihrer Sprache. Die Folgen dieser Politik sind bis heute spürbar: Verlust kultureller Identität, generationsübergreifendes Trauma und tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.
In den letzten Jahren wächst das öffentliche Bewusstsein für dieses dunkle Kapitel der kanadischen Geschichte. Es gibt heute zahlreiche Initiativen zur Aufarbeitung, darunter Gedenkstätten, Bildungsprogramme, offizielle Entschuldigungen und finanzielle Entschädigungen. Besonders wichtig ist auch die Wiederbelebung der Mi’kmaw-Sprache und der traditionellen Lebensweisen.
Trotz allem zeigen die Mi’kmaq eine bemerkenswerte Stärke. Heute engagieren sich viele in der Bildung, in der Politik, in Umweltfragen und in der Rückgewinnung ihrer kulturellen Identität. Die Auseinandersetzung mit der Residential School Era bleibt ein zentrales Thema – nicht nur für die Mi’kmaq, sondern für die gesamte kanadische Gesellschaft.
Bis bald Eure Emma